II - Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
9. Mai 1950 – Die Schuman-Erklärung
„Die Fortschritte der europäischen Idee, die verschiedenen Verwirklichungen der Nachkriegszeit und die ersten Wirkungen der US-amerikanischen Hilfe bedeuteten zwar einen Hoffnungsschimmer, es fehlte jedoch ein breit angelegtes Vorhaben mit klaren Zielsetzungen. Während viele versucht waren, die Einheit auf atlantischen Fundamenten zu errichten, waren Männer wie Jean Monnet und Robert Schuman der Auffassung, dass die Dynamik allein von den Europäern ausgehen müsse, um eine auf solidarischen Beziehungen beruhende deutsch-französische Aussöhnung zu ermöglichen. Darüber hinaus betrachteten sie es als Frankreichs Pflicht, angesichts der zunehmenden Ungeduld seitens Washington und London die Initiative zurückzugewinnen und eine neuartige deutsche und europäische Politik vorzuschlagen. Der Plan, der unter größter Geheimhaltung von Jean Monnet und einigen Mitarbeitern vorbereitet wurde, sieht die Gründung einer Montanunion vor und wurde dem französischen Außenminister Robert Schuman am 3. Mai 1950 in Form eines Memorandums vorgelegt. Dieser handelte umgehend. Er entschloss sich, auf den Überraschungseffekt zu setzen und stellte damit die Gewohnheiten und Sitten auf den Kopf. Am 9. Mai 1950 gab er im Uhrensaal des Quai d‘Orsay seine berühmte Erklärung ab, in der er den genauen Inhalt des Vorhabens, über das lediglich der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer einige Stunden zuvor in Kenntnis gesetzt wurde, offenbarte. Das war die Geburtsstunde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die in der Öffentlichkeit auf Begeisterung stieß und die Zustimmung der Regierungen Deutschlands, Italiens, Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs einholte. Die Staaten mussten die Ausübung eines Teils ihrer Souveränität an eine supranationale und unabhängige Hohe Behörde übertragen“ (G-H Soutou, L’héritage européen de Robert Schuman, S. 25).
Jean Monnet war stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes, galt als ausgezeichneter Kenner der internationalen Wirtschafts- und Finanzfragen und in den angelsächsischen Kreisen als geschätzte Persönlichkeit. 1945 wurde er als Leiter des Planungskommissariats Teil der Übergangsregierung. Er war der erste Präsident der Hohen Behörde der EKGZ.
Robert Schuman (1886-1963), ministre des Affaires étrangères de 1948 à 1953
Robert Schuman stammt ursprünglich aus Lothringen und wurde 1919 zum Abgeordneten des Departements Moselle gewählt. Der ausgebildete Rechtsanwalt orientierte sich sein Leben lang am christlichen Demokratieverständnis und hegte anders als zahlreiche seiner Landsleute gegenüber den deutschen Nachbarn nie Deutschenfeindlichkeit. Er galt als wichtige Persönlichkeit der Vierten Französischen Republik, war Mitglied des MRP (Mouvement Républicain Populaire) und Verfechter der deutsch-französischen Aussöhnung. Er war von der Tragfähigkeit von Jean Monnets Vorhaben überzeugt.
Nachdem er einleitend seiner Hoffnung auf ein geeintes, ausgesöhntes und florierendes Europa, dessen gemeinsamer Reichtum dem gesamten Kontinent sowie u. a. Afrika zugutekommen soll, Ausdruck verliehen hatte, stellte Robert Schuman seinen Plan vor, , der die deutsch-französische Aussöhnung, die wirtschaftliche Vereinigung als Auftakt zu einer europäischen Föderation, die auf andere Bereiche ausgedehnt werden kann, sowie die Ziele und Grundsätze der zukünftigen gemeinsamen „Hohen Behörde“ umfasst. Für Schuman gingen mit jeder wirtschaftlichen Entscheidung politische Auswirkungen einher.
- Zum gesamten Text der Erklärung von Robert Schuman (PDF - 382 Ko), per Hand korrigiert und aufbewahrt im diplomatischen Archiv in La Courneuve (Ref.: 235QO/57)
- Hören Sie die Aufzeichnung der Schuman-Erklärung->https://www.ina.fr/video/I10119533/discours-de-robert-schuman-sur-la-creation-de-la-ceca-video.html] auf der Website des INA.
Der Vertrag vom 18. April 1951
Ausgehend von Robert Schumans Vorschlägen wurden von den sechs Staaten, die Teil des Vorhabens waren (Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien) Verhandlungen geführt. Am 18. April 1951 unterzeichneten sie einen Vertrag, durch den die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begründet wurde. In diesem wurde der freie Verkehr von Stahlerzeugnissen und Kohle zwischen den sechs Staaten festgeschrieben und eine supranationale Hohe Behörde mit der Festlegung der Preise, der Sicherstellung des freien Wettbewerbs und der sozialen Sicherung sowie mit der Koordinierung der Stahl- und Bergbauinvestitionen betraut. Außerdem sieht er vor, dass die Regierungen von einem Ministerrat vertreten werden, die nationalen Parlamente eine Gemeinsame Versammlung ernennen und ein Gerichtshof für Rechtsbehelfe eingerichtet wird. Dieses Gleichgewicht wird sich in allen späteren europäischen Institutionen wiederfinden (vgl. L’héritage européen…, S. 42).
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- Zum kompletten Vertragstext in der Datenbank der Verträge und Übereinkünfte Frankreichs
(TRA19510080) auf der Plattform France Diplomatie Frankreich ist Verwahrer der Urschrift.
- „Les États-Unis d’Europe ont commencé. La Communauté européenne du Charbon et de l’Acier, discours et allocutions, 1952-1954“ von Jean Monnet (Paris, 1955);
- „Der Schuman Plan. Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl […] mit einem Vorwort von Prof. Dr. Walter Hallstein“ (Frankfurt, 1951), erste Ausgabe des Vertragstexts in Deutschland, veröffentlicht in Frankfurt mit einem Vorwort des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Prof. Dr. Walter Hallstein.
)]
Tragweite und Aktualität des Vertrags
Der Vertrag über die Gründung der EGKS erregte in und über Europa hinaus Aufsehen, insbesondere jenseits des Atlantiks. Auf Grundlage des wohlerworbenen Prinzips der Supranationalität ermöglichte er es, über eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit, die sich bis dato als unzureichend erwiesen hatte, hinauszugehen. Er stellte die deutsch-französische Zusammenarbeit in den Mittelpunkt des europäischen Projekts und schaffte gleichzeitig ein Modell, das anderen europäischen Ländern auf Grundlage ihrer Zugehörigkeit zum gleichen geografischen, rechtlichen und kulturellen Raum offensteht.
Auch wenn er im wirtschaftlichen Bereich nicht die erwarteten Erfolge erzielte (ab 1957 wurde Erdöl vor Kohle zur Hauptenergiequelle), legte er nichtsdestotrotz den Grundsatz fest, demzufolge der Aufbau Europas mit der wirtschaftlichen Integration einhergehen werde. Nach dem Scheitern der europäischen Verteidigungsgemeinschaft (1952-1954) beauftragen die sechs Staaten Paul-Henri Spaak mit der Verfassung der Verträge zur Gründung des gemeinsamen Marktes und der europäischen Atomenergiegemeinschaft, die am 25. März 1957 unterzeichnet wurden.
Der EGKS-Vertrag trat mit einer Laufzeit von 50 Jahren in Kraft und lief damit am 23. Juli 2002 aus. Dennoch konnte die für die EGKS konzipierte Architektur dank ihres flexiblen und inklusiven Charakters größtenteils den Umwälzungen der letzten Jahrzehnte standhalten (vgl. „L’Héritage européen de Robert Schuman“).