Jean-Yves Le Drian, Minister für Europa und auswärtige Angelegenheiten - Redebeitrag beim Kolloquium „Beyond 1989: Hopes and Disillusions after Revolutions” (Prag, 06.12.19)

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Sehr geehrter Herr Minister, lieber Tomáš,
sehr geehrter Herr Rektor der Karls-Universität, unser heutiger Gastgeber,
sehr geehrte Frau Vizerektorin,
sehr geehrter Herr Direktor der Akademie der Wissenschaften,
sehr geehrter Herr Direktor des CEFRES, lieber Jérôme Heurtaux,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,

dreißig Jahre sind seit 1989 vergangen. Eine ganze Generation. Alles begann mit Euphorie und wurde zu Zweifeln.

Ich bin überzeugter Europäer und ich kann Ihnen sagen, dass Europa im Zentrum meines politischen Engagements steht. Ich erinnere mich an die Leidenschaft und den Jubel dieser Tage, die im Herbst 1989 das Antlitz unseres Kontinents verändert und ausnahmslos alle Völker Europas bewegt haben.

Als Minister für Europa und auswärtige Angelegenheiten Frankreichs bin ich bestürzt darüber, dass unsere Gedenkfeierlichkeiten zur Erinnerung an das Jahr 1989 in jedem Jahrzehnt etwas zögerlicher und weniger vereint begangen werden. Und das, obwohl wir heute mehr denn je ein starkes, freies und grundsatztreues Europa brauchen.

Deshalb wollte ich hier in Prag, an der Karls-Universität, im Herzen Europas, gemeinsam mit Ihnen über das Jahr 1989 nachdenken, darüber, was es heute über uns und die europäischen Bestrebungen aussagt, zu denen wir uns weiterhin bekennen sollten. Es ist eine Botschaft eines Europäers an andere Europäer zu diesem so besonderen Jahr, eine Botschaft über seine Hoffnungen und Enttäuschungen, aber auch eine Botschaft über die Zukunft des Geistes von 1989, die ich heute an Sie richten möchte.

Die heute von einigen geäußerte Ernüchterung beschäftigt Historiker und Forscher. Und genau darum soll es unter anderem auch bei diesem Kolloquium gehen‚ das vom französischen Forschungszentrum für Sozialwissenschaften in Prag sowie von der Akademie der Wissenschaften und der Karls-Universität organisiert wird, denen ich dafür danke, dass sie mich eingeladen haben, heute hier vor Ihnen zu sprechen.

Diese Ernüchterung beschäftigt Historiker und Forscher, aber auch alle Europäer sollten sich damit beschäftigen — und insbesondere diejenigen, die in der politischen Verantwortung stehen. Sie wirft wichtige Fragen auf: nach den vielfältigen Erinnerungskulturen zu unserer Geschichte, der Autonomie und Sicherheit Europas, der Verknüpfung zwischen der staatseigenen und der europäischen Souveränität.

Auf diese Ernüchterung zu reagieren, den Faden und die Energie unseres europäischen Traumes wiederzufinden, das ist unsere gemeinsame Herausforderung.

Zuerst werde ich Ihnen sagen, wofür ich nicht nach Prag gekommen bin. Ich bin Politiker in einem sozialwissenschaftlichen Kolloquium. Wir tragen alle Verantwortung. Große Verantwortung, aber sehr unterschiedliche. Und deshalb bin ich nicht hier, um Ihnen eine Geschichtslektion zu erteilen.

Die Wissenschaftler müssen zu diesem Abschnitt der Geschichte genauso frei forschen können, wie zu anderen. In diesem Jahr gedenken wir nicht nur des Jahres 1989, sondern auch des 80-jährigen Bestehens des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts und der zunächst zeitgleichen und später aufeinanderfolgenden Aufteilung der nationalsozialistischen und sowjetischen Besatzung Europas.

Für einige ist die Versuchung groß, eine „Politik der Geschichte“ zu betreiben und im Dienste einer Ideologie die Vergangenheit zu instrumentalisieren, das Feuer zu schüren sowie zu noch mehr Verwirrung beizutragen. Heute besteht die Gefahr, dass sich die Geschichte aufgrund neu definierter nationaler Interessen und Narrative wiederholt.

Zu viele zu offiziellen Wahrheiten erhobene Legenden haben auf unserem Kontinent zu blutigen Konflikten geführt, damit wir ihrem Wiederaufblühen gleichgültig gegenüberstehen. Zu den Idealen des Europas der Aufklärung zurückzukehren bedeutet, das kritische Denken in unseren Gesellschaften zu bewahren. Wenn Wahrheit und Unwahrheit gleichbedeutend sind, dann wird der Sinn des Wortes Wahrheit selbst ausgehöhlt und inhaltsleer.

Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, haben 23 Staaten, darunter Frankreich, auf Initiative des französischen Vorsitzes des Europarats die Einrichtung einer Beobachtungsstelle für den Geschichtsunterricht in Europa gefordert. Durch eine neutrale und faktenbasierte Beurteilung der Lehrpläne und Schulbücher wird es durch diese Beobachtungsstelle möglich, einen Austausch zwischen unseren Bildungswesen anzuregen, ein Wiederaufflammen rassistischer, fremdenfeindlicher oder antisemitischer Rhetorik zu verhindern und die Annäherung zwischen den Völkern zu fördern. Und vielleicht gelingt es uns dadurch zu zeigen, dass es unter Achtung unserer individuellen Geschichten auch eine Geschichte gibt, die uns vereint, die Geschichte unseres Kontinents und dieses europäischen Geistes, dessen Erben und Garanten wir sind.

Wie einer unserer großen Historiker, Marc Bloch, sagte, „erwächst das Unverständnis der Gegenwart fatalerweise aus der Ignoranz der Vergangenheit“. Sie kann auch aus der Manipulation der Geschichte erwachsen. Zu den europäischen Grundsätzen gehört die akademische Freiheit, und dort, wo sie bedroht ist, sind Demokratie und Frieden gefährdet.

Unsere politische Verantwortung, im Verhältnis zur wissenschaftlichen Verantwortung, besteht jedoch darin, auf der Grundlage Ihrer Forschungsarbeit ein gemeinsames europäisches Gedächtnis zu schaffen, das auf zwei Grundsätzen beruht.

Zunächst die Wahrung nationaler Erinnerungskultur, die anerkannt und gehört werden muss. Unsere nationalen Geschichten beruhen auf vergangenheitsbezogenen Referenzen. Ein und dasselbe Datum kann in verschiedenen europäischen Staaten unterschiedliche Reaktionen hervorrufen.

So erfährt das Jahr 1968 in der französischen, tschechischen und polnischen Geschichte nicht die gleiche Resonanz. Ein weiteres Beispiel ist das Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, das letztes Jahr in Paris begangen wurde. 1918 bedeutet für uns Waffenstillstand und Erleichterung bei den Franzosen. In Ihrer Region ist diese Zeit bis 1923 jedoch durch den Zerfall von Reichen, Kriege, Revolutionen, Vertreibungen der Bevölkerungen und Pogromen geprägt.

Und selbst 1989 ruft bei Franzosen oder Deutschen zunächst die Bilder des Falls der Berliner Mauer wach, noch vor den – ebenso bewegenden – Bildern der Menschenkette, die ab Ende August 1989 die drei baltischen Staaten durchquerte, Staaten, deren Annexion wir nie anerkannt haben, die jedoch ihre Souveränität noch nicht wiedererlangt hatten. Dieses Verständnis unserer verschiedenen nationalen Geschichten muss im Mittelpunkt des europäischen Aufbauwerks stehen. Alle Europäer, angefangen bei den Franzosen, müssen dies verstehen.

Als zweites Prinzip gilt, dass dies zu sagen nicht bedeutet, die Pläne zur Neuschreibung oder Instrumentalisierung der Vergangenheit gutzuheißen. Es bedeutet auch nicht, den historischen Relativismus oder den Revisionismus zu unterstützen. Und ebenfalls nicht, eine von oben angeordnete vereinheitlichende Geschichte zu fördern. Es geht nicht darum, eine einheitliche Geschichte zu konstruieren, sondern um die Entwicklung eines „europäischen Geschichtsbewusstseins“, das auf der Überzeugung beruht, dass unsere nationalen Geschichten die Grundlage für ein gemeinsames Bewusstsein bilden müssen, Europäer zu sein, die endlich in ihrer Vielfältigkeit geeint sind.

Erinnern wir uns an diesen Satz von Victor Hugo: „Die Erinnerungen machen unsere Stärke aus. Wenn die Nacht versucht zurückzukehren, müssen wir wichtige Meilensteine entzünden, wie wir auch Fackeln entzünden.“ Des Jahres 1989 zu gedenken und gemeinsam über die Versprechen von damals nachzudenken, sowohl über die umgesetzten als auch die, die uns enttäuscht haben, kann unsere Entschlossenheit zur Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft in Frieden und Demokratie nur noch stärken.

Ich bin heute hier, weil ich überzeugt davon bin, dass die europäische Geschichte der Vielfalt der nationalen Geschichten gerecht werden muss. Ich bin davon überzeugt dass wir uns noch mit der Vielfalt unserer Geschichten auseinandersetzen müssen, um besser begreifen zu können, welch zentrale Rolle diese Vielfalt für das spielt, was Europa ausmacht.

Als Milan Kundera 1983 von der „Tragödie Mitteleuropas“ sprach, sprach er nicht nur über die sowjetische Dominanz. Er bedauerte vor allem, dass Mitteleuropa in den Augen des Westens nur noch als Teil des sowjetischen Reiches gesehen wurde. Die Unterschiede dürfen weder heute noch damals das auslöschen, was uns eint, unsere Schicksalsgemeinschaft und universelle Grundsätze, die noch aus der Zeit der Aufklärung stammen.

Ich glaube tatsächlich, dass es nur dann gelingt, die Bedeutung von 1989 in der Geschichte der Europäer in vollem Umfang zu erfassen, wenn wir alle diese Stimmen in die gemeinsame Geschichte einbinden, die wir gemeinsam schreiben müssen, und wenn wir sie im Rahmen dieser Geschichte miteinander ins Gespräch bringen. Wenn ich darauf beharre, wenn ich zu Beginn dieser Rede darauf beharrt habe, dann deshalb, weil wir verstehen müssen, woher wir kommen, um gemeinsam entscheiden zu können, wohin wir gehen müssen.

Erlauben Sie mir daher, Ihnen zu sagen, welche Bedeutung das Jahr 1989 für einen Franzosen hat und warum ich hierher nach Prag kommen wollte, um die Wende von 1989 zu feiern, im Zuge derer die Länder Mitteleuropas nach 50 Jahren unter zunächst nationalsozialistischer und dann sowjetischer Besatzung ihre Freiheit und Souveränität zurückgewonnen haben und die Wiedervereinigung Europas ihren Anfang nehmen konnte. 1989 hat uns drei wichtige Errungenschaften hinterlassen: Freiheit, Souveränität und Einigkeit.

1989 markiert natürlich die Rückkehr der Freiheit, der Freiheiten, das Ende der totalitären Unterdrückung und der Vernichtung des Individuums, den Sieg der Demokratie und des Rechtsstaats; d. h. die Krönung eines Staates, der nicht mehr unterdrückt, sondern beschützt.

Schließlich ist dies der Sinn des europäischen Projektes, das Jean Monnet einst so beschrieb: „Wir verbünden nicht Staaten, sondern vereinen Menschen“. „Freie Menschen“, hätte er hinzufügen können. Vergessen wir nicht, dass es keine Demokratie geben kann ohne eine Ordnung, die die Rechte und die Freiheiten schützt und die Vorrangigkeit des Rechts gegenüber der Gewalt gewährleistet. Jene, die die sogenannte „liberale“ Demokratie mit der „Tyrannei“ der Minderheiten gleichsetzen, jene, die die sogenannte „liberale“ Demokratie mit dem Multikulturalismus und der Verachtung von Traditionen gleichsetzen, sind nicht nur Sophisten, sondern auch Geschichtsvergessene. Sie vergessen, dass eben hier in Prag, wie auch in Warschau und in Budapest, Männer und Frauen dem Totalitarismus Widerstand geleistet und unter Einsatz ihres Lebens für die Freiheit gekämpft haben.

Ich bin daher vor allem hierhergekommen, um diejenigen zu ehren, die sich vor dreißig Jahren erhoben und den überrumpelten Regierungen – in den berühmten Worten von Vaclav Havel ausgedrückt – „die Macht der Machtlosen“ aufgezwungen haben.

Vaclav Havel – ein Name, den ich hier nicht aussprechen kann, ohne dass mir, Tomáš hat es eben schon erwähnt, der Morgen des 9. Dezember 1988 und das historische Treffen zwischen François Mitterrand und acht tschechoslowakischen Dissidenten, darunter auch der später erste Präsident eines befreiten Landes, in Erinnerung kommen. Ich bin stolz, sehr stolz darauf, dass Frankreich ihm auf diese Weise Anerkennung für seinen Kampf erwiesen hat. Im darauffolgenden Jahr haben zahlreiche Französinnen und Franzosen mit Bewunderung und Begeisterung verfolgt, wie die Völker Mitteleuropas ihr Schicksal in die Hand nahmen und beschlossen, ihre Geschichte selbst zu schreiben und im Grunde nicht nur ihre eigene, sondern unsere Geschichte zu schreiben, jene des wiedervereinigten Europas.

Mit diesen Völkern möchte ich auch der Dissidenten gedenken, deren Widerstandsgeist in gewisser Weise den Weg für diesen Umsturz geebnet hatte. Ich denke an Jan Palach. Ich denke natürlich an Vaclav Havel, an Jan Patocka und an all jene, die die Charta 77 mitgetragen haben. Ich denke an Pater Jerzy Popieluszko, den Kaplan von Solidarnosc, und ich denke an so viele andere, einschließlich der Studierenden in Budapest 1956, die für die Freiheit gekämpft haben.

Ich habe von 1989 gesprochen, von der Freiheit, doch 1989 steht auch, wie ich weiß, für die Wiedererlangung von Unabhängigkeit und Souveränität in allen Ländern, die zuvor unter dem sowjetischen Joch gelitten haben. Die Revolutionen von 1989 setzten der Breschnew-Doktrin ein Ende, jenem Prinzip der beschränkten Souveränität, das nach dem Einmarsch der Sowjets und ihrer Verbündeten in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 formuliert wurde, als Reaktion auf die immensen Hoffnungen, die der Prager Frühling geweckt hatte. Und es war wiederum hier in Prag, wo diese Doktrin verschwand, als der Warschauer Pakt am 1. Juli 1991 aufgelöst wurde.

Diese vor 30 Jahren wiedererlangte Souveränität muss unsere Aufmerksamkeit für die Vorbehalte schärfen, die hier und da gegen den Begriff der „europäischen Souveränität“ geäußert werden, worauf ich noch zurückkommen werde. Und ich verstehe die Verbundenheit der Länder des ehemaligen Ostblocks mit ihrer nationalen Souveränität, diesem kostbaren Gut, an dem sie sich nur zeitweise hatten erfreuen können. Auch aus diesem Grund sind es die betroffenen Länder und ihre Bevölkerung, die ihre Bündnisse – oder ihre Bündnisfreiheit – wählen müssen, und nicht etwa dritte Mächte.

Die wiedererlangte Freiheit von 1989 ist letztlich auch die des gesamten europäischen Kontinents. Wie ich schon sagte, ziehe ich für Europa das Wort Wiedervereinigung, das uns einander annähert, dem Wort Erweiterung vor, das uns voneinander entfernt. „Die Dinge schlecht benennen heißt das Unglück in der Welt vermehren“, sagte einst Albert Camus. Was schlecht benannt ist, kann nicht genau erdacht werden.

Diese wiedererlangte Freiheit, diese Geschichte, die ihr vollen Mutes geschrieben habt – ihr, Tschechen, Slowaken, Polen, Ungarn, Rumänen –, das war jeweils auch die unsere. Ihr habt sie uns zurückgegeben. Die Freiheit Europas, einschließlich der des Westens, war begrenzt durch die Unfreiheit Mitteleuropas und den Sowjetblock. 1989 war das Ende von Jalta, einer Ordnung, die wir erduldet haben, aber die Frankreich nie akzeptiert hat. Es war mehr als eine „Rückkehr nach Europa“, das, wie Milan Kundera anmerkte, die Länder Mitteleuropas nie verlassen haben – es war die Anerkennung einer geographischen, aber auch kulturellen und somit politischen Tatsache, die mitunter willfährig kaschiert wird, die Einheit des europäischen Kontinents.

Ich möchte Ihnen etwas sagen, meine Damen und Herren, und damit an das anknüpfen, was Tomáš eben in seiner Rede gesagt hat: Das sogenannte „Osteuropa“ hat nie existiert. Es ist ein künstliches Erzeugnis des Kalten Krieges. Es ist keine stichhaltige Unterteilung, die aus der langen europäischen Geschichte hervorgegangen ist. Dank 1989 hat das lange einem wesentlichen Bestandteil seiner selbst beraubte Europa zum ersten Mal die Chance, Akteur und nicht nur Gegenstand seiner eigenen Geschichte zu werden.

Und jene, die heute die fehlende Einheit Europas als Argument heranziehen, um das europäische Projekt zu verurteilen, täuschen sich: Die Einheit unseres Kontinents ist weder eine Abstraktion oder ein politisches Schlagwort noch eine „intellektuelle Träumerei“, sondern eine konkrete Wirklichkeit für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger, die diese hart erkämpfte Freizügigkeit im täglichen Leben erfahren.

Es ist vielleicht eine der unseligsten Folgen der Flüchtlingskrise von 2015, dass Grenzen geschlossen und Mauern errichtet werden, dass der durch die Schengener Abkommen geschaffene Raum des freien Personenverkehrs in Frage gestellt wird. Schließlich gehört Schengen zusammen mit dem Euro oder, in einem anderen Bereich, Erasmus zu den konkretesten und greifbarsten Ausgestaltungen der europäischen Einigung. Diese Errungenschaften sind ebenso notwendig wie fragil, genau wie im Übrigen das europäische Aufbauwerk. Deshalb dürfen wir nie zögern, die Schwarzmaler, die schnell mit Belehrungen zur Stelle und von Wahlinteressen getrieben sind, an das zu erinnern, was wir im Dienste der Völker aufbauen konnten und zu dem wir in der Lage waren.

Diese vielschichtigen Erinnerungen an 1989 münden natürlich in unser gemeinsames europäisches Projekt. Ich möchte Ihnen nun von den Erkenntnissen berichten, die ich aus diesem Rückblick auf unsere gemeinsame Geschichte für unsere gemeinsame Zukunft ziehe.

Das Projekt, das wir, Frankreich, Sie und wir, vorantreiben, ist ein Projekt des europäischen Humanismus, das mit der kompromisslosen Verteidigung unserer Werte und Prinzipien seinen Anfang nimmt. Es ist ein Projekt der sozialen, wirtschaftlichen und steuerlichen Konvergenz, Tomáš hat es angesprochen. Die Zeit drängt, um auf die Enttäuschungen zu antworten und die Risse im europäischen Aufbauwerk zu beseitigen. Dabei handelt es sich nicht um eine neue Mauer zwischen „zwei Europas“, die innerhalb der Europäischen Union koexistieren. Ungleichheiten, populistische Versuchungen sowie der Bedeutungs- und Orientierungsverlust sind für uns alle Herausforderungen, die wir miteinander teilen. Wir müssen sie als gemeinsame Herausforderungen betrachten.

Dieses Projekt ist angesichts der zügellosen Globalisierung, angesichts der Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs, ein europäisches Machtprojekt im Dienste unserer Völker. Mehr als je zuvor unterliegt das internationale Leben heute weltweiten Unruhen und der brutalen Ausprägung der Machtverhältnisse. Und Europa steht vor einer Entweder-oder-Entscheidung: sich fügen und riskieren, sich seine Beschlüsse diktieren zu lassen, oder Flagge zeigen, um jedes Mal wenn nötig abzuwägen, im Sinne seiner Identität und seiner Prinzipien.

Ich wähle ohne zu zögern die zweite Option. Warum? Weil wir seit Paul Valéry wissen, dass Zivilisationen sterblich sind. Wie? Indem wir Europa über sein Schicksal bestimmen lassen.

Und in diesem Zusammenhang liegt es auch auf der Hand, dass ich an eines erinnern muss: Dieses Projekt werden wir auf lange Sicht nur dann erfolgreich durchführen können, wenn wir in der Lage sind, unsere Sicherheit zu gewährleisten.

Deshalb glaube ich, dass man das Jahr 1989, in dem Europa sich auf Grundlage demokratischer Prinzipien und humanistischer Werte wiedervereinigt hat, nicht zur Sprache bringen kann, ohne auch das Jahr 1990 und die Verabschiedung der Charta von Paris für ein neues Europa zu erwähnen. Worum ging es dabei? Darum, eine kollektive europäische Sicherheitsordnung aufzubauen, indem die bereits 1975 in Helsinki angenommenen zehn großen Leitprinzipien operationalisiert werden.

Nun aber ist dieses Ziel der Errichtung einer kollektiven europäischen Sicherheitsordnung, das Anfang der 90er-Jahre noch so präsent war, zunehmend in den Hintergrund getreten. Es muss wiederbelebt werden.

In der Tat haben wir nach und nach erlebt, wie sich die Inhalte auflösten, die zur Errichtung der in der Charta von Paris vorgesehenen Sicherheitsarchitektur beigetragen hatten, und wir wurden Zeugen eines methodischen Dekonstruktionsbestrebens, das zum fortschreitenden, systematischen und nunmehr fast vollständigen Rückbaus aller Instrumente der Gewaltregulierung beigetragen hat: von den vertrauensbildenden Maßnahmen bis hin zu den Abkommen über Begrenzung und Reduzierung von Rüstungsgütern, egal welcher Kategorie. So entsteht alles in allem ein gefährliches Vakuum, das unseren Kontinent einmal mehr mit dem Risiko eines Konflikts belastet, sei es nun ein unbeabsichtigter Konflikt oder ein beabsichtigter Konflikt. Die sich häufenden militärischen Zwischenfälle zeigen dies. Den Versprechen von 89 treu zu sein bedeutet, diese Instabilität hinter sich lassen und diese Risiken verringern zu wollen.

Seit den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien, die den Europäern gezeigt haben, worin ihre Aufgaben zur Gewährleistung der Sicherheit ihres Kontinents bestehen, sind neue Bedrohungen entstanden. Dabei denke ich nicht nur an die brutale terroristische Gewalt. Der Krieg ist wieder nach Europa zurückgekehrt: erst in Georgien, dann in der Ukraine. Chemische Waffen wurden auf dem Boden einer europäischen Großstadt eingesetzt. Mit Cyberangriffen wurde versucht, unsere Demokratien, Wahlprozesse und öffentlichen Debatten zu sabotieren und bis auf die Grundfesten zu erschüttern.

Einige scheinen sich damit abzufinden. Doch wir, die Europäer, können es nach den schrecklichen Dramen, die das ganze 20. Jahrhundert über für Verwüstung auf unserem Kontinent gesorgt haben, nicht hinnehmen. Aus diesem Grund wollen wir uns nicht mit dem Status quo gegenüber Russland zufriedengeben, dessen aggressive Vorgehensweisen, die unser strategisches Umfeld im vergangenen Jahrzehnt zerrüttet haben, uns bekannt sind.

Was also benötigen wir, um unsere Sicherheit zu gewährleisten und uns auf die Versprechen von November 1990 zurückzubesinnen, als in Paris jene Charta angenommen wurde, die die Leitlinien der europäischen Sicherheitsarchitektur von Grund auf neu gestalten sollte?

Wir sind zunächst einmal auf die transatlantische Verbindung angewiesen.

Auch wir Franzosen wollen sie erhalten. Wir sind politisch, militärisch und strategisch darauf angewiesen. Und das insbesondere bei den Militäreinsätzen, die wir im östlichen Mittelmeerraum und in der Sahel-Zone durchführen, unter der Präsenz tschechischer Streitkräfte. Dies schließt nicht aus, dass wir die Entwicklungen, die diese Verbindung betreffen, mit klarem Blick betrachten und daraus unsere Konsequenzen ziehen. Jedem ist klar, dass die Zeit, in der Europa seine Sicherheitsbelange komplett in die Hände anderer geben und sich ausschließlich auf selbige verlassen konnte, dass diese Zeit vergangen ist. Und diese Veränderung geht nicht erst auf die Amtszeit von Präsident Trump zurück. Was wir in Europa als strategische Autonomie bezeichnen und im Grunde genau die Vorstellung von gleichmäßiger Verteilung der Lasten umfasst, ist eine Voraussetzung – eine Voraussetzung – für eine starke und glaubwürdige transatlantische Verbindung.

Im Übrigen legen einige unserer amerikanischen Gesprächspartner nahe, dass unsere eigenständige Handlungsfähigkeit genau das ist, was Frankreich in Verteidigungsfragen zum besten Partner Washingtons macht.

Die transatlantische Verbindung ist für uns notwendig, und es ist außerdem notwendig, dass die NATO das bleibt, was sie nach 89 endlich für jeden von uns sein konnte: eine stabilisierende Macht.

Deshalb war es Frankreichs Wunsch, Gespräche über die Unruhe in Gang zu bringen, die derzeit im Atlantischen Bündnis herrscht. Der Gipfel, der gerade in London stattgefunden hat, stellt den Beginn einer ernsthaft geführten strategischen Diskussion innerhalb dieses Bündnisses dar. Wir waren beide dort anwesend. Dies war im Sinne des Fortbestands und der Festigung der transatlantischen Verbindung notwendig.

Die Grundvoraussetzung für die Stärke des Atlantischen Bündnisses besteht nun darin, dass sich die Europäer proaktiver zeigen und mehr Verantwortung übernehmen, als Teil eines neu gestalteten und austarierten Bündnisses. Es würde ohne NATO genauso wenig eine europäische Verteidigung geben, wie es ohne Verstärkung des europäischen Verteidigungsaufwands eine glaubwürdige und tragbare NATO geben wird.

Das ist schon lange unsere Haltung und Frankreich setzt sich konkret für die Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen der NATO in den baltischen Staaten als auch im Schwarzen Meer ein. Frankreich respektiert die Sicherheitsinteressen all seiner europäischen Partner und Verbündeten und macht diese voll und ganz zu seinen eigenen. Es wird sie stets als unantastbare Priorität verteidigen. Das hat Präsident Macron im Übrigen vorgestern in London verkündet. Wir sind und bleiben unerbittlich, wenn unsere Souveränität oder die Souveränität unserer Partner und Verbündeten auf dem Spiel steht. Unsere Verbündeten können sich stets auf Frankreich, auf sein Engagement und auf seine Armee verlassen.

Und drittens brauchen wir eine Organisation der Sicherheit in Europa, die die strategische Stabilität des gesamten Kontinents garantiert.

Dies ist der Zweck der NATO-Strategie, die seit 1967 Abschreckung und Dialog miteinander verbindet. Dies soll auch der Vorschlag einer europäischen Architektur der Sicherheit und des Vertrauens durch den Staatspräsidenten bezwecken.

Lassen Sie es uns ganz deutlich sagen, auch ich sage es hier unmissverständlich: Wenn wir den systematischen Rückbau, von dem ich vorhin gesprochen habe, wieder aufgreifen wollen, müssen wir wieder in einen Dialog mit Russland treten. Dieser muss sachlich und realistisch sein, um die Sicherheit aller Europäer verteidigen und die Kräfteverhältnisse ausspielen zu können, wann immer dies erforderlich ist. Denn wir dürfen die Geopolitik nicht ganz einfach ignorieren.

Die von uns ergriffenen Initiativen wurden unter strikter Wahrung der vereinbarten europäischen Grundsätze entwickelt. Und wir haben nicht die Absicht, die Sicherheitsinteressen unserer europäischen Partner zu vernachlässigen, im Gegenteil, denn es sind auch die unseren.

Deshalb möchten wir, dass sich die Europäer mit den wichtigen strategischen, militärischen und nuklearen Themen beschäftigen, die direkt ihre eigene Sicherheit betreffen. Und dazu gehören der Wiederaufbau eines rechtlichen Rahmens und Maßnahmen zur Förderung der Transparenz, um die Gefahr einer unfreiwilligen militärischen Eskalation zu begrenzen, Vorgaben zu den Fähigkeiten unserer potenziellen Gegner zu definieren und so die Bedrohung zu verringern.

Mit der Aussetzung des Vertrags über die konventionellen Streitkräfte in Europa, dem Auslaufen des Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrags und den Ungewissheiten, die bis 2021 in Bezug auf den New-START-Vertrag herrschen, besteht die Gefahr, dass Europa sich erneut mit einem gewissenlosen und das Gesetz missachtenden, hemmungslosen militärischen und nuklearen Wettbewerb konfrontiert sieht. Eine solche Situation haben wir seit Ende der 1960er Jahre nach den Krisen in Berlin und Kuba nicht erlebt und durchgemacht.

Diese Neugestaltung der Rüstungskontrolle in Europa liegt in unserer Verantwortung, in der der Europäer‚ wenn wir verhindern wollen, lediglich zu einem Schauplatz der Auseinandersetzung von Drittmächten zu werden. Deshalb möchten wir, dass demnächst eine solche Überlegung von den Europäern als europäischer Beitrag zu den strategischen Überlegungen des Atlantischen Bündnisses, die vorgestern aufgenommen wurden, und zur Verteidigung unserer Interessen und unserer Vision von der internationalen Ordnung angestellt wird.

Schließlich müssen wir, meine Damen und Herren, den Geist und die Bedeutung von Helsinki sowie den Geist und die Bedeutung der Pariser Charta wiederfinden.

Werden die Leitlinien von Helsinki ignoriert oder verletzt, geht dies immer zu Lasten dessen, was wir hier in Europa aufbauen wollen. Dies haben die letzten 30 Jahre gezeigt.

Kommt das Prinzip der Einflussbereiche wieder zum Tragen, werden die souveräne Gleichheit der Staaten und die Achtung der der Souveränität zugrunde liegenden Rechte verletzt.
Wird nur eine einzige Grenze gewaltsam in Frage gestellt, geraten die Unverletzlichkeit aller unserer Grenzen und damit die Grundsätze der Nichtanwendung von Gewalt und der territorialen Integrität der Staaten ins Wanken.
Werden die politischen Gegner inhaftiert und die Grund- oder akademischen Freiheiten beschränkt, dann sind es die Menschenrechte und die Demokratie, die mit Füßen getreten werden.

Deshalb bin ich der Meinung, dass diese Grundsätze – Helsinki und die Charta von Paris – und die Notwendigkeit, sie umzusetzen, nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit besitzen. Es ist an uns, das wieder in Angriff zu nehmen, was vor 30 Jahren versucht wurde umzusetzen. Im Laufe des Jahres werden wir dafür sorgen, dass diese Diskussion auf europäischer Ebene geführt wird, damit wir uns anlässlich des dritten Pariser Friedensforums im November 2020 gemeinsam mit diesem Thema befassen können.

Im Bereich Sicherheit wie in vielen anderen Bereichen besteht unsere Herausforderung im Grunde darin, eine echte europäische Souveränität aufzubauen.

Und damit haben wir angefangen. Dank dieser Anstrengungen beginnt Europa endlich zu seiner Macht zu stehen, um weiter frei in seinen Entscheidungen bleiben und sich frei zu den Werten bekennen zu können, für die es einsteht.

Diese gemeinsame Souveränität beeinträchtigt in keiner Weise die Souveränität unserer einzelnen Länder. In einer gefährlichen Welt, in einer Welt des exzessiven Wettbewerbs schützt sie sie alle. Sich für das Eine zu entscheiden bedeutet nicht, das Andere aufzugeben. Ganz im Gegenteil!

Ich verstehe, dass die Länder, die vor 30 Jahren noch zum Ostblock gehörten, sehr stark an ihrer Souveränität festhalten. Aber ich will ihnen Folgendes sagen: Europäische Souveränität bedeutet weder eine Rückkehr des Heiligen Römischen Reiches noch eine Rückkehr der Breschnew-Doktrin à la Brüssel. Sie bietet jedem Staat Unabhängigkeit in einer Welt, in der die Rivalität zwischen den Mächten in allen Bereichen spürbar ist.

Ich möchte Ihnen gegenüber also mit Nachdruck bekräftigen: Ein echter Europäer ist nicht derjenige, der Existenz und Bedeutung der Nationalstaaten verleugnet. Ebenso wenig wie derjenige, der Europa ablehnt und verurteilt, ein echter Patriot ist. Ein patriotischer Europäer bzw. ein europäischer Patriot zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass er weiß, dass das europäische Projekt ohne starke Nationen geschwächt ist, und dass auch unsere Nationen ohne ein starkes Europa schwächer sind.

Wenn wir das 21. Jahrhundert nicht über uns ergehen lassen wollen, müssen wir Europäer in einem wichtigen Bereich die Kontrolle erlangen, um diese Souveränität zu gewährleisten. Wir haben dieses Thema vorhin mit Tomáš schon stark anklingen lassen: den digitalen Sektor.

Denn auch in diesem Bereich besteht ernsthaft die Gefahr, dass andere – Länder oder Unternehmen – uns ihre Entscheidungen auferlegen.
In diesem neuen Konflikt-Raum kommen ausgefeilte Machtstrategien zum Einsatz, die auf Angriff und Destabilisierung ausgelegt sind.
Eine weitere Bedrohung ist die Gefahr der Abhängigkeit von den Technologien anderer, von 5G bis hin zu künstlicher Intelligenz.
Und schließlich die Gefahr, dass die Praktiken einiger großer Akteure des Privatsektors ohne ausreichende Regulierung gegen die Grundrechte unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger verstoßen, insbesondere was den Schutz der Privatsphäre angeht.

Wir Europäer müssen also gemeinsam handeln, um eine europäische digitale Souveränität aufzubauen, die gleichzeitig effizient ist und unseren Werten entspricht, d.h. eine Souveränität, die weder isolationistisch noch herrisch ist, sondern uns in die Lage versetzt, frei über unser Schicksal zu entscheiden.

Fakt ist: Wir fangen nicht bei null an. Wir stützen uns auf technische Infrastrukturen und innovative Ökosysteme. Wir haben eine Vision von der digitalen Welt: Wir wünschen uns eine freie, offene und sichere digitale Welt. Wir sind in der Lage, dieses Konzept voranzutreiben. Das haben wir bereits mit der Datenschutz-Grundverordnung, der DSGVO, gemacht, und jetzt tun wir es mit der Besteuerung digitaler Leistungen.

Um Schritt für Schritt Europas digitale Souveränität aufzubauen, müssen wir meines Erachtens vier Handlungsfelder vorrangig angehen und eine europäische Vision von der digitalen Welt und der Menschenrechte im digitalen Zeitalter vermitteln.

Wir müssen die Sicherheit im Cyberspace stärken.

Wie ich gesagt habe bildet Sicherheit das Fundament unserer Souveränität. Spionage, Sabotage, unbefugter Zugriff nehmen im digitalen Zeitalter neue Dimensionen an und sind Eingriffe, die wir nicht hinnehmen können. Um gegen diese Bedrohungen gewappnet zu sein und gegebenenfalls darauf reagieren zu können, müssen wir eigene Kapazitäten entwickeln. Und wir müssen den Raum sichern, in dem sie erfolgen, nämlich den Cyberspace.

Wir haben bereits mehrere Initiativen in dieser Richtung angestoßen: Dazu gehört der Pariser Appell für Vertrauen und Sicherheit im Cyberspace, im Rahmen dessen sich Regierungen und Unternehmen zur Ausarbeitung gemeinsamer Grundsätze verpflichten, um die Rechte des Einzelnen zu schützen und die internationalen Standards zu stärken; der Pariser Appell, aber auch der Appell von Christchurch gegen die Nutzung des Internets zu terroristischen Zwecken. Und wir können auch anderen Ländern helfen, sich zu schützen, ohne sich einer Cyber-Macht unterordnen zu müssen.

Zweitens müssen wir auch den Innovationswettlauf gewinnen.

Europa hat sich innerhalb nur weniger Jahre wieder zu einer digitalen Innovationskraft entwickelt. Viele europäische Städte, auch Paris, sind inzwischen innovative Ökosystemen.

Europa muss seine Kräfte bündeln und europäische Lösungen für die Herausforderungen von morgen liefern: intelligente Städte, vernetzte Gesundheit. Wir müssen die kritischen Sektoren und Bereiche identifizieren, von den 5G-Netzen bis hin zu Fragen betreffs digitaler Identität oder Kryptowährungen. Und natürlich müssen wir weitere Fortschritte in der Forschung und bei der Verbindung von Forschung und Industrie erzielen.

Ja, wir müssen die Entwicklung eines echten digitalen Binnenmarktes weiter vorantreiben. Aber das genügt nicht. Wir müssen auch mit Entschlossenheit am Ausbau europäischer digitaler Technologien arbeiten – sei es bei der Datenspeicherung, im Umgang mit Big-Data, oder beim Cloud-Computing. Darin liegt der Schlüssel für die Achtung unserer Werte und Rechte.

Drittens müssen wir ebenso unsere Rolle als normative Kraft festigen.

Wie wir es mit der DSGVO gemacht haben, müssen wir auch auf dem Gebiet der Regeln und Vorschriften weiterhin innovativ sein, um Vorhersehbarkeit und Vertrauen in diesem Bereich zu gewährleisten, aber auch, um die Achtung grundlegender Prinzipien durchzusetzen. Ich denke dabei an die Regulierung der künstlichen Intelligenz, an die Regulierung von Inhalten und an die Sicherheit im Cyberspace. In diesen Fragen müssen wir, lieber Tomáš, Mehrheitsbündnisse entwickeln. Aber das werden wir schaffen.

Und schließlich, als vierten Punkt, müssen wir die digitalen Gemeinschaftsgüter in ihrer Funktion als gemeinsame und offen zugängliche Infrastrukturen schützen.

Innovative Akteure müssen sich heute in Europa auf zahlreiche Ressourcen stützen - Infrastruktur, Daten, Zahlungssysteme -, auf die einzelne Akteure das Monopol haben. Diese bestimmen und setzen ohne Abstimmung ohne ihre eigenen Spielregeln durch.

Wir haben keine hegemoniale Vision von Souveränität. Wir wollen also, dass sich die digitale Welt um Gemeinschaftsgüter herum strukturiert, ohne dass diejenigen, die durch ihre Datenverarbeitungskraft de facto über Monopole verfügen und die durch die Kontrolle über Technologie oder durch finanzielle Vorherrschaft de facto über Monopole verfügen, sich diese Gemeinschaftsgüter aneignen. Aus diesem Grund müssen wir dafür Sorge tragen, dass diese Gemeinschaftsgüter weiterhin von allen genutzt werden können und – was ebenso wichtig ist – von allen optimiert werden können.

Zu all diesen Fragen möchte Frankreich, dass wir mit allen interessierten Ländern Europas und den europäischen Institutionen 2020 Überlegungen zur digitalen Souveränität Europas anstoßen, und ich habe das Gefühl, dass diese Überlegungen im Einklang mit den ersten Maßnahmen der neuen Kommissionspräsidentin stehen.

Meine lieben Freunde,

ich werde zum Ende kommen, ich habe mich nicht kurz gefasst. Ich möchte Ihnen sagen, dass wenn es etwas gibt, das uns 1989 rückblickend lehrt, dann ist es die Erkenntnis, dass Geschichte nicht linear verläuft. Es gehört heute zum guten Ton, die westliche Arroganz anzuprangern, mit der vom Zusammenbruch des Sowjetblocks auf den Sieg der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft geschlossen wurde.

Wir sollten jedoch vermeiden, dass auf den „demokratischen Determinismus” jener Zeit 30 Jahre später eine Form von „populistischem Determinismus“ folgt. Mit Blick auf den wachsenden Populismus, auf die Kritik und Hinterfragung des liberalen Demokratie-Modells sowie des Multilateralismus wird heute „das Ende der liberalen Ordnung“ prophezeit. In gewisser Weise ein neues Ende der Geschichte, umgekehrt, was mehr einem zaghaften Rückzug als einer glänzenden Zukunft gleichkäme.

Aber die eigentliche Lehre aus 1989 ist, dass Geschichte nie im Voraus geschrieben wird und dass die Völker es sind, die Geschichte schreiben. Darüber kann man sich als Politiker nur freuen. Das ist wirklich eine ausgezeichnete Erkenntnis, denn daraus können wir schließen, dass die Europäer ihre Zukunft frei gestalten können und dass sie durch ihr gemeinsames Wirken jene die Gesellschafts- und Regierungsmodelle entwickeln und verteidigen können, an die sie glauben. Oder um es mit den Worten von Vaclav Havel zu sagen: Widerstandsgeist und Mut zahlen sich aus.

1989 hat zweifelsohne noch nicht all seine Versprechen gehalten. Ist das ein Grund für Verdrossenheit? Ich glaube nicht. Ich sehe darin vielmehr einen weiteren Grund für die Europäer, weiterhin zusammen daran zu arbeiten, ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben.

Das ist, wie ich glaube, die schönste Art und Weise, dem Geist von 1989 treu zu bleiben und all jenen Anerkennung zu erweisen, die vor 30 Jahren durch ihren Glauben, ihre Beharrlichkeit und ihre Leidenschaft Geschichte geschrieben haben – Ihre Geschichte, unsere Geschichte, im Dienste unseres gemeinsamen Europas, eines freien, souveränen und humanistischen Europas.

Ich lade Sie alle ein, aus der Kraft von 1989 zu schöpfen, um besser gemeinsam das Europa von morgen aufbauen zu können und erlaube mir dafür, mit diesen weisen, von Nietzsche inspirierten Worten abzuschließen: „Die Vergangenheit befruchten und die Zukunft zeugen – das ist mir Gegenwart.“

Ich danke Ihnen.