Ruanda - Rede des französischen Staatspräsidenten am Kigali Genocide Memorial (27. Mai 2021)

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Unmittelbar nach seiner Ankunft in Ruanda begab sich der französische Staatspräsident zum Kigali Genocide Memorial. Nach einer Besichtigung der Gedenkstätte hielt er eine Rede über die Rolle Frankreichs in Ruanda zwischen 1990 und 1994.

[Es gilt das gesprochene Wort]

„Nur wer die Nacht durchschritten hat, kann von ihr erzählen“

Es sind diese von Ernsthaftigkeit und Würde durchdrungenen Worte, die an diesem Ort nachhallen, hier am Kigali Genocide Memorial.

Von der Nacht erzählen.

In diesen Worten manifestiert sich ein unergründliches Schweigen. Das Schweigen von mehr als einer Million Männern, Frauen und Kindern, die nicht mehr da sind, um von diesem endlosen Versagen der Menschheit zu erzählen, von diesen Stunden, in denen alles verstummte.

Diese Worte erzählen vom verzweifelten Davonlaufen der Opfer, von der Flucht in den Wald oder in die Sümpfe. Ein Lauf ohne Ziel und ohne Hoffnung, eine gnadenlose Treibjagd, die jeden Morgen, jeden Nachmittag von Neuem begann, ein sich täglich wiederholendes, schreckliches Übel.

Sie lassen die Stimmen all jener erklingen, die, nachdem sie gestolpert waren, dem Tod oder der Folter durch die Hand ihrer Peiniger ohne einen Schrei die Stirn boten, mitunter um einem Angehörigen, einem Verwandten, einem Kind oder einem Freund die Flucht zu ermöglichen und so bis zu ihrem letzten Atemzug für dessen Schutz zu sorgen. Diese Stimmen, die verstummten, wenn bei Tagesanbruch die unerträgliche Euphorie der Gruppengesänge derer emporstieg, die „gemeinsam“ töteten und die, ihrem verdorbenen Vokabular nach, zur „Arbeit“ gingen.
Dieser Ort gibt ihnen all das zurück, was man versucht hatte, ihnen zu nehmen: ein Gesicht, eine Geschichte, Erinnerungen. Sehnsüchte, Träume. Und vor allem eine Identität, einen Namen – all die Namen, einer nach dem anderen unermüdlich eingraviert in das ewige Gestein dieser Gedenkstätte.

Ibuka, erinnere dich.

Diese Worte lassen auch die Stimme derer erklingen, die die Wunde jener Nacht tragen und die schwer gezeichnet sind von der Verletzung, da gewesen zu sein und noch immer da zu sein. Jene, deren Leid wir weder davor noch währenddessen und selbst, was vielleicht das Schlimmste ist, danach nicht erhört haben. Hinterbliebene, Überlebende, Waisen: Dank ihrer Berichte, ihres Mutes und ihrer Würde können wir ermessen, welch geringe Bedeutung Zahlen und Worten zukommt und welch große hingegen der unersetzlichen Fülle ihrer Leben.

Diese Worte sind Ausdruck einer Tragödie, die wir als Genozid bezeichnen. Doch sie gehen noch darüber hinaus. Denn dahinter steht ein Leben, mit all seinen Träumen, eine Million Mal ausgelöscht.

Ein Genozid ist mit nichts vergleichbar. Er hat eine Genealogie. Er hat eine Geschichte. Er ist beispiellos.

Ein Genozid hat ein Ziel. Die Mörder waren nur von diesem einen kriminellen Gedanken besessen: der Auslöschung der Tutsi, aller Tutsi. Männer, Frauen, ihre Eltern, ihre Kinder. Diese Besessenheit hat alle mitgerissen, die sich ihr in den Weg stellen wollten, doch sie selbst hat nie ihr Ziel aus den Augen verloren.

Ein Genozid hat einen tiefen Ursprung. Er wird vorbereitet. Methodisch nimmt er den Geist in Besitz, um die Menschlichkeit des Anderen auszulöschen. Er entspringt wahnhaften Erzählungen und Herrschaftsstrategien, die zu wissenschaftlicher Evidenz erhoben wurden. Er manifestiert sich durch alltägliche Erniedrigungen, Trennungen, Deportationen. Schließlich tritt der absolute Hass zutage, der Mechanismus der Ausrottung.

Ein Genozid verschwindet nicht einfach. Er ist unauslöschlich. Er kennt kein Ende. Man lebt nicht nach dem Genozid weiter, sondern mit ihm, so gut man eben kann.

In Ruanda sagt man, dass die Vögel am 7. April nicht singen. Weil sie wissen: Es ist an den Menschen, das Schweigen zu brechen.

Im Namen des Lebens müssen wir reden, benennen und anerkennen.

Die Mörder, die die Sümpfe, die Hügel und die Kirchen heimsuchten, hatten nicht das Gesicht Frankreichs. Frankreich war kein Komplize. Das Blut, das vergossen wurde, hat weder seine Waffen noch die Hände seiner Soldaten entehrt, die ihrerseits das Unsagbare mit eigenen Augen gesehen, Wunden behandelt und ihre Tränen erstickt haben.

Doch Frankreich hat in Ruanda eine Rolle, eine Geschichte und eine politische Verantwortung. Frankreich hat eine Pflicht: sich der Geschichte zu stellen und seinen Anteil am Leid anzuerkennen, das es dem ruandischen Volk zugefügt hat, indem es zu lange dem Schweigen Vorrang gegenüber der Suche nach der Wahrheit einräumte.

Als Frankreich sich 1990 auf einen Konflikt einließ, in dem es über keinerlei Vorerfahrung verfügte, überhörte es die warnenden Stimmen, oder überschätzte womöglich seine eigene Stärke in dem Glauben, aufhalten zu können, was bereits begonnen hatte.

Frankreich war nicht klar, dass es, indem es einen regionalen Konflikt bzw. einen Bürgerkrieg verhindern wollte, in Wirklichkeit einem völkermordenden Regime zur Seite stand. Indem es die Warnungen der wachsamsten Beobachter ignorierte, übernahm Frankreich eine überwältigende Verantwortung in einer Kettenreaktion, die mit dem schlimmsten Szenario endete, obwohl es versucht hatte, genau dies zu verhindern.

Im August 1993 in Arusha glaubte Frankreich, gemeinsam mit den Afrikanern den Frieden errungen zu haben. Seine Verantwortungsträger und Diplomaten hatten darauf hingearbeitet, in der Überzeugung, dass eine Kompromisslösung und die Machtteilung Erfolg haben könnten. Seine Bemühungen waren lobenswert und mutig. Aber sie wurden von einer völkermordenden Maschinerie hinweggefegt, die keine Hindernisse für ihre monströsen Pläne duldete.

Als die Henker im April 1994 mit dem begannen, was sie abscheulicherweise ihre "Arbeit" nannten, brauchte die internationale Gemeinschaft fast drei Monate, drei unendlich lange Monate, um zu reagieren. Wir alle haben Hunderttausende von Opfern eingeschlossen in dieser Hölle allein gelassen.

Kurz darauf besaßen französische Verantwortungsträger zwar die Klarheit und den Mut, dies als Völkermord zu bezeichnen, jedoch hat Frankreich es damals versäumt, daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.

Seitdem sind siebenundzwanzig Jahre bitterer Distanz vergangen. Siebenundzwanzig Jahre voller Missverständnisse, aufrichtiger, aber erfolgloser Versuche der Annäherung. Siebenundzwanzig Jahre des Leidens für diejenigen, deren persönliche Geschichte noch immer vom Antagonismus der Erinnerungen gebeutelt ist.

Indem ich heute mit Demut und Respekt an Ihrer Seite stehe, bekenne ich mich zum Ausmaß unserer Verantwortung. Damit setzen wir unsere Anstrengungen zur Aufklärung und Wahrheitsfindung fort, die nur durch die gründliche Arbeit von Forschern und Historikern erreicht werden kann. Und wir werden dies auch weiterhin tun, indem wir eine neue Generation von Forscherinnen und Forschern unterstützen, die mutig ein neues Wissensgebiet erschlossen haben. Wir hoffen, dass neben Frankreich auch alle anderen an dieser Phase der ruandischen Geschichte Beteiligten ihrerseits all ihre Archive öffnen werden.

Die Anerkennung dieser Vergangenheit bedeutet vor allem auch, die Arbeit der Gerichtsbarkeit fortzuführen, indem wir dafür Sorge tragen, dass niemand, der einer Beteiligung am Völkermord verdächtigt wird, der Gerechtigkeit entkommen kann.

Die Anerkennung dieser Vergangenheit, unserer Verantwortung, ist eine Geste, die keine Gegenleistung erwartet. Dies ist ein Anspruch an uns selbst und für uns selbst. Ein Zugeständnis gegenüber den Opfern nach so vielen Jahren des Schweigens. Eine Gabe an die Lebenden, deren Schmerz wir, sofern sie sie annehmen, vielleicht noch lindern können. Dieser Pfad der Erkenntnis, auf den wir uns durch unser Zugeständnis und unsere Gaben begeben, bietet uns die Hoffnung, diese dunkle Zeit zu überwinden und wieder einen gemeinsamen Weg einschlagen zu können. Auf dieser Reise können vielleicht nur diejenigen die Güte haben uns zu verzeihen, die diese Nacht durchschritten haben.

Diibuka.
Diibuka.

Ich möchte hier, an diesem Tag, der ruandischen Jugend versichern, dass eine andere Art der Begegnung möglich ist. Ohne damit etwas aus unserer Vergangenheit tilgen zu wollen, besteht die Möglichkeit einer respektvollen, von klarem Denken geprägten, solidarischen und für beide Seiten fordernden Allianz zwischen der Jugend Ruandas und der Jugend Frankreichs.

Das ist der Appell, den ich hier an Euch richten möchte. Lasst uns zusammen ein neues Morgen aus der Taufe heben. Lasst uns hier für unsere Kinder die kommenden glücklichen Erinnerungen vorbereiten. Dies ist der Zweck meiner Würdigung jener, deren Andenken wir bewahren, die ihrer Zukunft beraubt wurden und denen wir es schuldig sind, eine solche zu ersinnen.

Quelle (auf Französisch): https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2021/05/27/discours-du-president-emmanuel-macron-depuis-le-memorial-du-genocide-perpetre-contre-les-tutsis-en-1994