Runder Tisch über die geopolitische Zukunft Europas, organisiert von der Zeitschrift „Le Grand Continent“ – Redebeitrag von Jean-Yves Le Drian, Minister für Europa und auswärtige Angelegenheiten (Paris, 27. April 2021)

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Zu Beginn möchte ich Ihnen, lieber Sebastian Lumet, und Le Grand Continent für die Einladung zu diesem Gespräch mit Luuk van Middelaar und Cornelia Woll danken.

Lieber Luuk, ich weiß, dass Ihr Blick auf das europäische Geschehen scharfsinnig und anspruchsvoll ist, und ich freue mich, dass das Collège de France Sie ausgewählt hat, um seine neue Diskussions- und Reflexionsreihe zu den europäischen Herausforderungen zu eröffnen. Denn es erscheint mir – weniger als ein Jahr bevor Frankreich den Vorsitz des Europäischen Rates übernimmt – absolut essenziell, die öffentliche Debatte in Frankreich zu europäisieren. Und Sie leisten einen wichtigen Beitrag dazu.

Lassen Sie mich von Beginn an betonen, dass es nicht meine Absicht ist, hier heute als Theoretiker aufzutreten, sondern ganz einfach auf Grundlage meiner mittlerweile fast zehnjährigen Erfahrung in verschiedenen Ministerien und meiner täglichen Arbeit mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.

Wie Sie wissen, stellte die Frage, die uns heute Abend zusammenbringt – die Frage der geopolitischen Zukunft Europas – bereits den Horizont meines Handelns als Verteidigungsminister dar. Ich darf feststellen, dass wir seit 2012 einen beträchtlichen Weg zurückgelegt haben.

Zunächst was den Bereich der Sicherheit und Verteidigung betrifft, erinnere ich mich daran, dass ich, als ich damals mit meinen Amtskollegen das Thema Sahel ansprach und erklärte, dass diese Region auf der Karte der Bedrohungen die südliche Grenze Europas darstellt, zuweilen ratlose oder gar skeptische Blicke erntete.

Heute weiß jedoch jeder, dass der Kampf gegen die terroristischen Gruppen im Sahel ein für die Sicherheit der Europäer essenzieller Kampf ist. Und das kommt ganz konkret in Aktionen zum Ausdruck, die damals undenkbar waren, so z. B. der gemeinsame Einsatz der europäischen Spezialkräfte innerhalb einer Task force.

Ich erinnere mich auch an einen weiteren, nicht nur symbolischen Meilenstein auf diesem Weg, und zwar als mir nach den Anschlägen in Frankreich am 13. November 2015 die traurige Ehre zuteilwurde, zum ersten Mal in unserer Geschichte Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union, die sogenannte „Solidaritätsklausel“, zu aktivieren, der zufolge, wie Sie wissen, ein Mitgliedstaat im Falle eines „bewaffneten Angriffs auf sein Hoheitsgebiet (…) Hilfe und Unterstützung“ von den anderen Mitgliedstaaten erhalten kann. Das hatte es zuvor nie gegeben.

Seit dieser kollektiven Bewusstwerdung, die es uns ermöglicht hat, gemeinsam als Europäer die Augen für die Bedrohungen zu öffnen, denen wir gegenüber stehen, hat das Europa der Verteidigung nie aufgehört, sich zu behaupten: mit der Einrichtung eines europäischen Verteidigungsfonds; mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, die ein entscheidender Fortschritt war. Ich könnte Ihnen noch viel dazu erzählen, aber ich erinnere mich hinsichtlich der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit auch daran, dass wir, Ursula von der Leyen und ich, als wir als Verteidigungsminister von Deutschlands und Frankreich 2016 in Bratislava vorgeschlagen hatten, diese Idee der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit auf den Verteidigungsbereich auszuweiten, etwas belächelt wurden. Und sehen Sie, was passiert ist! Und dann gab es ebenfalls die Europäische Interventionsinitiative und heute die Aussicht auf einen „strategischen Kompass“, der es ermöglichen wird – unter französischer Ratspräsidentschaft, die im Übrigen ein wichtiger Termin ist – die europäischen Zielsetzungen in diesem Bereich bis 2030 festzulegen.

In jüngerer Vergangenheit hat Europa andere entscheidende geopolitische Kursänderungen vorgenommen. Ich denke dabei an die Bezeichnung Chinas durch die Europäische Kommission als „Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen“ der Europäer. Ich denke dabei an die Entscheidung, eine echte europäische Strategie für den Indopazifik zu entwickeln. Ich denke dabei an die Überprüfung der ausländischen Investitionen, die die EU im vergangenen Oktober in den strategischen Bereichen der Telekommunikation, der Biotechnologie und der Infrastrukturen eingeführt hat. Ich denke dabei an die Mitteilung der Kommission vom 18. Februar 2021 zur Festlegung einer neuen handelspolitischen Strategie der Europäischen Union, die klare Anforderungen in Sachen Gegenseitigkeit und fairer Handel stellt. Als Frankreich vor zehn Jahren in Brüssel diese Themen – Gegenseitigkeit, europäische Interessen, Strategie, level playing field – auf den Tisch brachte, ließen die Reaktionen unserer Gesprächspartner eine gewisse Ratlosigkeit erkennen, und sie kamen schließlich zu der Überzeugung, dass Frankreich ein unwiderruflicher Protektionist sei. Ich freue mich, dass diesbezüglich ein wahrhaftiger Gesinnungswandel stattgefunden hat. Ich denke dabei auch an den Geist der Solidarität, dank dem wir allem zum Trotz aus den Grenzen des europäischen Raums ein Werkzeug im Kampf gegen Covid-19 machen konnten. Ich werde nicht erneut auf dieses Thema zurückkommen, aber diese Haltung war essenziell und man kann darüber nachdenken, war passiert wäre, hätte es diese Initiativen, die nicht geplant waren, nicht gegeben.

Zweifellos – und das stelle ich jeden Monat in Brüssel fest – haben die aufeinanderfolgenden geopolitischen Kursänderungen den Europäern eine neue Sicherheit gegeben, mit der nunmehr die Mächte konfrontiert sind, die denken, dass sie immer noch auf die angebliche Schwäche der Demokratien im Allgemeinen und Europas im Besonderen setzen können. Ihnen stehen wir nun geeinter gegenüber und sind bereit, unsere Interessen und unser Gebiet zu verteidigen.

Bei so vielen greifbaren Zeichen bin ich überzeugt von einem geopolitischen Erwachen Europas. Ein unerlässliches geopolitisches Erwachen in einer Welt, die einem immer brutaleren und hemmungsloseren Wettbewerb ausgeliefert ist. Ein geopolitisches Erwachen, das es uns ermöglicht, die Zeit der Naivität und der Unschuld hinter uns zu lassen. Ein geopolitisches Erwachen, das unbedingt fortgesetzt werden muss – und das wird eine der Prioritäten der französischen Ratspräsidentschaft sein –, indem wir dem Weg der strategischen Autonomie und der Souveränität folgen, den wir gemeinsam zu ebnen begonnen haben.

Denn über die semantischen Diskussionen – deren wichtige Bedeutung ich dennoch nicht minimiere, da Wortgefechte immer ein wichtiger Schritt sind – hinaus, ist es eindeutig, dass den 27 nunmehr die Notwendigkeit, diesen Weg der Autonomie und der Souveränität zu zeichnen, bewusst ist.

Und selbst unsere amerikanischen Freunde verstehen nun, dass auch sie davon profitieren, auf einen starken Verbündeten zählen zu können. Ich war sehr beeindruckt von den ersten Gesprächen, die wir zu siebenundzwanzigst mit Anthony Blinken führen konnten: Er hat nicht gezögert, diese Notwendigkeit mit deutlichen Worten zu betonen.

Und das hat hinsichtlich der neuen transatlantischen Agenda, die wir entschlossen sind, gemeinsam umzusetzen, insofern eine große Bedeutung, als wir auf beiden Seiten des Atlantiks von einer engeren und gleichzeitig ausgewogeneren Zusammenarbeit profitieren.

Meines Erachtens sind wir uns also einig, dass die Zukunft Europas geopolitisch ist, dass die Europäer endlich dabei sind, dies zu verstehen, und dass wir die, wie Sie sagen, „Metamorphose“ eingeleitet haben, die es uns ermöglichen wird, uns nicht auf die Rolle der einfachen Beobachter einer Geschichte, unserer Geschichte, beschränken zu lassen, die andere an unserer Stelle schreiben könnten. Auch wenn natürlich noch viel zu tun ist.

Es ist noch viel zu tun, um Europa auf industrieller und technologischer Ebene aufzurüsten. Wie Sie, liebe Cornelia, und wir alle heute wissen, ist der Weg dahin extrem lang. Heute stellen wir kein einziges Gramm Paracetamol in Europa her – das ist wortwörtlich unerträglich. Aber auch um zu verhindern, dass ausländische, von ihren Staaten subventionierte Unternehmen den Wettbewerb innerhalb unseres Binnenmarkt verfälschen. Oder auch um die Bestätigung unserer europäischen Souveränität in dem strategischen Bereich der Energie weiterzuverfolgen.

Für mich wird das europäische geopolitische Erwachen jedoch unvollständig sein, wenn wir nicht auch parallel zu diesem Weg der strategischen Autonomie und der Souveränität einen neuen Weg der Geopolitik errichten: eine neue Geopolitik des Einflusses, eine neue Geopolitik gemeinsamer Güter, eine neue Geopolitik der Werte.

Diese Ausdrücke mögen paradox erscheinen. Dessen bin ich mir wohl bewusst. Ich kann Ihnen dennoch versichern, dass sie die äußerst konkreten Sorgen widerspiegeln, die wir, Minister der 27, die im Alltag zusammenarbeiten, um eine rein europäische Geopolitik zu schaffen, die den Herausforderungen von heute entspricht, uns machen.

Gestatten Sie mir, stärker auf diesen letzten Punkt einzugehen: Die europäische Geopolitik des 21. Jahrhunderts muss eine echte Geopolitik sein, die aber gleichzeitig auch eine echte europäische Geopolitik ist und eine echte Geopolitik des 21. Jahrhunderts. Denn es ist eindeutig, dass wir nicht die Kontrolle über unser Schicksal behalten, indem wir versuchen, die Geopolitik der anderen zu machen, genau wie es eindeutig ist, dass die „Rückkehr der Geschichte“, hinsichtlich der Sie, lieber Luuk, zurecht erklären, dass sie eine Rückkehr zur Geopolitik notwendig macht, dass diese „Rückkehr der Geschichte“ keine Rückkehr in die Vergangenheit ist. Diese „Rückkehr der Geschichte“ ist ganz im Gegenteil eine Rückkehr zum Ereignis, wie Sie es aufzeigen und wie es uns die Krisen, mit denen wir uns jede Woche auseinandersetzen müssen, in Erinnerung rufen. Sie geht aber auch mit dem Aufbau einer neuen internationalen Lage einher.

Eine neue Lage, die mich dazu veranlasst, einen etwas anderen Blick, der den Ihrigen meiner Meinung nach jedoch ergänzt, auf die Schlüsselkonzepte zu werfen, die als Ausgangspunkt Ihres Artikels dienen: Macht, Gebiet und Erzählung. Dies würde ich nun gerne versuchen, mit Ihnen zu teilen, um einige praktische Konsequenzen daraus zu ziehen.

1/ Was diese neue Lage ausmacht, ist meiner Meinung nach zunächst die Ausweitung des internationalen Wettbewerbs auf alle Bereiche.

Ja, heute ist alles eine Gelegenheit – um nicht zu sagen: heute ist alles ein Vorwand –, um diesen Wettbewerb im Dienste dessen, was als reine Machtinteressen zu bezeichnen ist, zu nähren.

Seit dem Ausbruch der Pandemiekrise hatten unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger bereits mehrfach die Gelegenheit, sich dessen bewusst zu werden. Man erinnere sich an die „Diplomatie der Masken“ und die falschen Versprechen der Impfpropaganda bestimmter Akteure.

Und die Folge ist, dass, wenn die Geopolitik inzwischen überall ist – weiterhin in den militärischen Machtdemonstrationen, aber nunmehr auch da, wo wir am wenigsten mit ihr gerechnet hätten – ist unser geopolitischer „Werkzeugkasten“ – um ein Bild zu übernehmen, dass sie oft benutzen – in Wahrheit besser ausgestattet, als wir denken.

Anders ausgedrückt sind wir mächtiger als wir es uns vorstellen können. Denn unsere europäischen Stärken können als Werkzeug einer neuen Geopolitik des Einflusses dienen – und hoffentlich nutzen wir diese strategisch.

Dank seines Marktes mit 450 Millionen Verbrauchern hat Europa verstanden, dass es die Macht – und ich sage ganz deutlich die Macht – hat, bezüglich der umweltbezogenen Entscheidungen seiner Handelspartner ins Gewicht zu fallen. Deshalb haben wir das Übereinkommen von Paris zu einer Bedingung unserer bilateralen Handelsabkommen gemacht. Und das ist auch der Sinn hinter dem CO2-Grenzausgleichssystem, über das wir derzeit diskutieren.

Wie Sie sehen, geht es dabei in der Tat darum, die gesamte Bandbreite unserer Handlungswerkzeuge zu nutzen, ganz realistisch und im Dienste der von uns festgelegten Prioritäten. Es geht dabei um Geopolitik.

2/ Diese neue internationale Lage wird natürlich auch durch die Globalisierung der Herausforderungen bestimmt.

Auch hier dient die Pandemie als Indikator. Die Covid-19-Krise, der Klimawandel, der Verlust der Artenvielfalt oder auch Bedrohungen durch Cyberangriffe betreffen uns alle auf die eine oder andere Weise, egal wo wir leben. Und diese Bedrohungen sind in verschiedenen Bereichen tiefgreifende Faktoren für Instabilität und globale Umbrüche. Ob es uns nun gefällt oder nicht, führen diese Herausforderungen wieder zu etwas Gemeinsamem in einer zersplitterten Welt. Das ist ein Fakt, den eine zukunftsgerichtete Geopolitik nicht einfach ignorieren kann.

Die Folge ist, dass wenn die europäische Geopolitik des 21. Jahrhunderts in einem bestimmten Gebiet verankert werden muss, so wird sie manchmal auch über rein territoriales Denken hinausgehen müssen.

Lieber Luuk, Sie haben Recht, wenn Sie betonen, wie wichtig die Akzeptanz der Europäer dafür war, ihr eigenes Selbstbewusstsein in einem abgegrenzten Gebiet neu zu verankern. Ich glaube jedoch, dass wir, wenn wir alle unsere Interessen wahren und uns vor allen Bedrohungen schützen wollen, auch sicherstellen müssen, dass wir uns vor jeder Form dessen hüten, was man „geopolitische Kurzsichtigkeit" nennen könnte. Denn um ein wirklich souveränes Europa aufbauen zu können, müssen wir auch bereit sein, uns überall dort zu engagieren, wo unser Schicksal auf dem Spiel steht. Und damit manchmal auch weit über unsere eigenen Grenzen hinaus.

Lieber Luuk, mir ist aufgefallen, dass Sie ziemlich oft den Philosophen Hegel zitieren, und mir fällt dabei ein markanter Satz ein: „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung“. Er drückt genau das aus, was wir gerade im Begriff sind zu begreifen: Damit Europa ganz es selbst sein kann, muss es sich selbst als vollwertiger internationaler Akteur verstehen. Es mag sich wie ein Paradox anhören, aber es ist heute ein Paradox, das uns definiert.

Ganz konkret: Um unsere Gesundheit zu erhalten, unseren Planeten zu schützen, ein freies, sicheres und offenes Internet zu gewährleisten, müssen wir deshalb auf der internationalen Bühne agieren, mit allen Mitteln der europäischen Macht, d. h., eine neue Geopolitik gemeinsamer Güter umsetzen, die auf multilateraler Zusammenarbeit und auf Rechtsstaatlichkeit beruht. Dies haben wir bereits versucht, im Rahmen der Allianz für den Multilateralismus umzusetzen, die ich gemeinsam mit Heiko Maas ins Leben gerufen habe und die bereits die Schaffung eines Rats hochrangiger Sachverständiger für „One Health“ ermöglicht hat, der von der WHO unterstützt wird, die in gewisser Weise der IPCC der Weltgesundheit sein wird. Und vor diesem Hintergrund mobilisieren wir auch unsere Partner im Vorfeld der COP 26 in Paris, so wie wir dies heute auch im Hinblick auf die COP 26 in Glasgow tun. Und dieses Ziel verfolgen wir auch beim Pariser Appell für Vertrauen und Sicherheit im Cyberspace.

Diese Erfolge zeigen, dass die Geopolitik der Europäer nicht dazu verdammt ist, nur eine Geopolitik mit Konfliktpotential zu sein. Wenn wir die Kräfteverhältnisse behaupten müssen, um unsere Souveränität zu wahren – und wir haben gezeigt, dass wir dies bereits schrittweise tun – müssen wir auch wissen, wie wir die Karte der internationalen Zusammenarbeit ausspielen können. Natürlich immer ganz realistisch.
Ich verstehe die Vorbehalte sehr gut, die Luuk gegenüber einem "universalistischen Denken" geäußert hat, das nur zu leeren Worthülsen führen würde. Aber ich denke, dass die strategischen Überlegungen der Europäer diese konkreten Universalien, die tatsächlich unsere Zukunft bestimmen werden, nicht außer Acht lassen dürfen.

3/ Deshalb glaube ich, dass die großen globalen Herausforderungen von heute einen neuen Universalismus und gleichzeitig einen neuen Humanismus erfordern, den es in unserem Interesse, durch die Konfrontation von Modellen und Werten, die auch die neue internationale Lage bestimmt, in den Vordergrund zu stellen gilt.

Um es ganz deutlich zu sagen: Dieser neue Humanismus ist meines Erachtens nicht das letzte Relikt eines europäischen Idealismus, der sich für den Mittelpunkt der Welt hält.

Und noch weniger ist dies dem „Westen“ vorbehalten.

Aber lassen Sie uns nicht in die Falle des Relativismus der Werte tappen, der ebenso eine Gefahr für das Denken wie auch für das Handeln ist, denn es liegt nur ein kleiner Schritt zwischen dem „Alles ist es wert“ und dem „Alles ist erlaubt“. Was wirklich auf dem Spiel steht, ist ganz einfach eine bestimmte Vorstellung vom Menschen und seiner Würde. Eine Vorstellung von universeller Tragweite, denn die Menschen haben Grundrechte, die respektiert werden müssen, egal wo sie geboren werden. Denn jenseits der Unterschiede zwischen den Völkern gibt es auch die Einheit der menschlichen Spezies. Das war nicht immer selbstverständlich, und es kam zu schrecklichen Tragödien.

Wir mussten darum kämpfen. Und heute, angesichts der Bedrohung durch die schlimmsten Rückschritte, müssen wir sie zurückerobern.

Es ist eine Vorstellung vom Menschen und seiner Würde, die nun auch eine universelle juristische Übersetzung hat; sie ist das Herzstück des Völkerrechts, das wir nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam geschaffen haben, mit Verpflichtungen für alle Nationen, die sich frei dafür entschieden haben, diese Verpflichtungen gemeinsam einzugehen.

Wir dürfen diese gemeinsame Geschichte nicht vergessen, die nicht nur die Geschichte der Europäer ist, sondern tatsächlich eine Geschichte, die Europa mit allen anderen Kontinenten verbindet. Im Gegenteil, wir müssen den Mut dafür aufbringen, uns auf sie zu berufen, um gegen die Zivilisationsmythen und nationalistischen Märchen vorzugehen, die heute denen als Vorwand dienen, die hinter dem Schleier dieser Vorwände ein politisches Interesse daran haben, universelle Grundsätze in Frage zu stellen, die die Grundlagen des Völkerrechts sind und die uns umso mehr am Herzen liegen, da sie gleichzeitig auch die Grundlagen des politischen Projekts sind, das die Europäer vereint. Deshalb können wir auch und vor allem nicht hinnehmen, dass sie innerhalb der Union offensichtlich missachtet werden.

Folglich scheint mir, dass wir die von Ihnen geforderte geopolitische Geschichte nicht nur uns selbst erzählen dürfen, so als ob sie nur die Geschichte der Europäer wäre, mit der nur die Europäer etwas anfangen können. Sondern wir müssen sie auch niederschreiben und mit den Zivilgesellschaften der ganzen Welt weiterentwickeln können, und zwar unabhängig von den sogenannten kulturellen Trennungen, aber auch unabhängig von der Logik der Blöcke.

Dies ist der Zweck des dritten Weges, den die Europäer auf eigenen Vorschlag zusammen mit ihren Partnern in Lateinamerika, im Indopazifik oder auch auf dem afrikanischen Kontinent zu errichten beabsichtigen, was jedoch selbstverständlich nicht bedeutet, dass wir gegenüber China und den Vereinigten Staaten die gleiche Nähe an den Tag legen. Denn wir wissen, dass es unsere Verbündeten gibt und die anderen.

Wie Sie sicher bemerkt haben, muss aus meiner Sicht diese Geschichte, die die Europäer mit ihren Partnern aufbauen müssen, um daraus das Gerüst einer gemeinschaftlichen Welt zu machen, die Geschichte eines neuen Humanismus sein. Ein neuer Humanismus, der uns als Europäer eint und der unter allen Umständen der politische Horizont unserer Union bleiben muss, die weit mehr als nur ein bloßer Markt ist. Aber auch ein neuer Humanismus, der eine auf einem klaren Bekenntnis beruhende Geopolitik der Werte erfordert und der uns dazu dienen soll, gemeinsam mit all jenen zu agieren, die anderswo in der Welt ebenfalls anerkennen, dass es gewisse universelle Anforderungen gibt, die für uns alle gelten.

Das ist es, was ich, an Ihre Überlegungen anknüpfend, lieber Luuk, als erstes sagen wollte, und zwar zunächst einmal, um das geopolitische Erwachen Europas zu würdigen, da es hierbei in der Tat um unsere Zukunft geht, aber auch, um die Notwendigkeit zu betonen, diesen Elan in den Dienst einer neuen Geopolitik zu stellen, die auf die Welt von morgen ausgerichtet ist.

Es handelt sich also um einen Weg der strategischen Autonomie und der Souveränität. Aber auch um einen Weg, der es uns ermöglicht, mit unseren Partnern aus der ganzen Welt daran zu arbeiten, das, was für uns zählt, worauf wir Wert legen und woran wir glauben, mit Leben zu erfüllen. Für mich wird an der Schnittstelle dieser beiden Erfordernisse über die Möglichkeit einer echten europäischen Geopolitik des 21. Jahrhunderts entschieden.

Abschließend möchte ich ein konkretes Beispiel für diesen Ansatz nennen, der die Anliegen der „traditionellen“ Geopolitik, die Werkzeuge der Geopolitik des Rechts und der Zusammenarbeit zwischen den Nationen sowie den Kompass einer Geopolitik des Allgemeingültigen und der Werte in ein kohärentes Ganzes integriert: die Resolution, die am vergangenen Dienstag auf Initiative Frankreichs von der OPCW [Organisation für das Verbot chemischer Waffen] angenommen wurde. Diese Resolution verhängt Sanktionen gegen Syrien, da das Land Angriffe mit Chlor und dem Gas Sarin durchgeführt und somit seine internationalen Verpflichtungen verletzt hat. Dank acht Jahren der Mobilisierung vonseiten der Europäer konnte die internationale Gemeinschaft eine ganz klare Botschaft senden: Es gibt universelle Rechtsgrundsätze, die niemand ungestraft verletzen darf. Und es war unerlässlich, diesen Kampf zu führen, der die von mir angesprochenen Problemlagen berührt, um zu versuchen, einen geopolitischen Weg für die Zukunft aufzuzeigen.